Beral Madra, "Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel", Universes in Universe, 2009

Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin
Von Beral Madra
Auszug aus dem Text zur Ausstellung im Katalog von "Istanbul Next Wave", Moderne und zeitgenössische Kunst aus Istanbul, veranstaltet im Rahmen der 20jährigen Städtepartnerschaft Berlin-Istanbul von der Stadt Istanbul und der Akademie der Künste (Berlin) in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin. Zu dem Projekt gehören 3 Ausstellungen: Istanbul Modern Berlin (im Martin-Gropius-Bau); Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel (in der Akademie der Künste am Pariser Platz); Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul (Akademie der Künste, Hanseatenweg).
Zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren versammle ich nun in einer großen Ausstellung die Werke türkischer Künstlerinnen.[1] Bedenkt man, welche Verwerfungen die Türkei in ihrem rund hundert Jahre langen Prozess der demokratischen Modernisierung durchgemacht hat, so dass sie heute als ein Sonderfall innerhalb der islamischen Welt dasteht, und berücksichtigt man außerdem, dass der Fortschritt dieser Modernisierung über die Jahrzehnte immer wieder am Status der Frauen in einer überwiegend muslimischen und kulturkonservativen Bevölkerung gemessen wurde, so kann das große Interesse an den Werken türkischer Künstlerinnen nicht überraschen. Das zeitgenössische Schaffen türkischer Künstlerinnen ist in seiner emblematischen Bedeutung für das ansonsten relativ homogene Kunstgeschehen des Landes schon seit den frühen 1990er Jahren anerkannt. Damals begann sich der internationale Kunstdiskurs verstärkt für nicht-europäische oder nicht-westliche Kontexte zu interessieren. Im scharfen Wettbewerb um Aufmerksamkeit waren es nicht zuletzt die Künstlerinnen, die mit ihren provokanten und radikal gesellschaftskritischen Arbeiten der Türkei ihren Platz im globalen Kunstgeschehen sicherten.
Der Titel der Ausstellung versteht sich als Hommage an die türkische Frauenbewegung und vermittelt zugleich das Vorhaben, es mit einer gewissen Sensationslust und Abgebrühtheit des heutigen Kunstpublikums aufzunehmen: "Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel" - so lautete am 17. Mai 1987 ein Schlachtruf von 3.000 Demonstrantinnen in Istanbul. Er sollte ein türkisches Wertesystem auf den Kopf stellen, das im Sprichwort von den angeblich mit beiden Beinen im Himmel stehenden Müttern zum Ausdruck kommt. [2] Während die Tradition unablässig die Mutterschaft heiligt und sie scharf vom Dasein bloß "weltlicher", wenn nicht gar "verruchter" Frauen abgrenzt, leiteten die protestierenden Frauen an jenem Tag mit ihrer Umkehrung des Spruchs eine neue Ära ein, was die gesellschaftliche Position der Frauen im Land betrifft. Ihr Slogan formulierte das Aufbegehren gegen den Zwang, einem sakrosankten Ideal der Mutterschaft zu genügen, und gegen die weitgehende Unmöglichkeit, als Frau in der Türkei ein anderes Leben zu führen. Aktuell ist die Forderung nach mehr "Boden unter den Füßen" zwanzig Jahre später immer noch - insofern das repressive und ausbeuterische weibliche Rollenbild auch heute noch im Zusammenwirken von neoliberalem Kapitalismus, patriarchaler Tradition und dogmatischer Religion gepflegt wird. Zugleich weisen die hier vorgestellten Werke in ihren Aussagen jedoch weit über die Intentionen und Ansprüche von damals hinaus.
Wer oder was kann noch mithalten mit der Waren- und Medienkultur? Wie kann man sich in ihr behaupten? Die weibliche Identität ist in der Türkei wie überall eng verwoben mit Politik, Religion, Konsumkultur und medialer Selbstspiegelung. Darüber hinaus verlaufen die Gräben der Identitäten in diesem Land auch zwischen Kopftuchträgerinnen und Nicht-Kopftuchträgerinnen, "beschützten" und "nicht beschützten", "angepassten" und "unangepassten" Frauen. An solchen Gegensätzen wird deutlich, wie sehr die Gesellschaftsordnung und die patriarchalen Dogmen immer noch greifen. In Analogie dazu sind die Körpererfahrungen türkischer Frauen häufig entweder von Missbrauch und sexueller Ausbeutung bis hin zu Vergewaltigung von früher Jugend an geprägt, oder im Gegenteil von einem Körperkult der Kosmetikindustrie. Die Künstlerinnen dieser Ausstellung verarbeiten derartige Themen - unter Einbeziehung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Hintergründe - in Form von Selbstporträts, Performances, Dokumentationen von Performances sowie in verschiedenen visuellen Metaphern, in denen sich Praktiken, Lebenswirklichkeiten oder auch gründliche Recherchen niederschlagen.
(…)
"Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel" - Vor dem Hintergrund einer sehr grundsätzlichen gemeinsamen Aussage in den Werken versucht diese Ausstellung nicht zuletzt, das Selbstverständnis der türkischen Künstlerinnen als solche zu bestärken und eine vermeintlich selbstdiskriminierende Kategorie in einen Vorteil zu verwandeln. Nach meinem Abriss der gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Türkei dürfte klar sein, dass wir mehr denn je gefordert sind, die strategische Position der zeitgenössischen türkischen Künstlerinnen energisch zu behaupten. Aufgebaut ist die Ausstellung im Wesentlichen chronologisch. Von der Gegenwart ausgehend, erkundet sie einige der langen und abenteuerlichen Wege, die türkische Künstlerinnen im 20. Jahrhundert gegangen sind.
Anmerkungen:
1. 2001 März, Sheshow, Fotografie, Video und Installationen aus Istanbul, für das ATA Zentrum für Zeitgenössische Kunst in Sofia, Bulgarien; 2004 März, Kuratorin von "The Sphinx will devour you!" internationale Ausstellung mit 15 Künstlerinnen, Karşı Sanat Galerisi, Beyoglu, Istanbul.
2. Der Titel ist das Motto des Protests von 3.000 Frauen am 17. Mai 1987 in Istanbul. The Women’s Movement in Turkey: From Tanzimat towards European Union Membership Zuhal Yeşilyurt Gündüz www.sam.gov.tr/volume9c.php

Beral Madra
Kuratorin und Kunstkritikerin. Leitet das BM Contemporary Art Center in Istanbul.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Künste und der Autorin.

http://universes-in-universe.org/deu/nafas/articles/2009/under_my_feet/img/02_nazan_azeri